Selbstverteidigung
Erscheinungsformen von Konfliktsituationen oder Was muss ein Selbstverteidigungstraining berücksichtigen?
„Nichtphysische Vorphase“
Jede Konfliktsituation, die mit einer körperlichen Auseinandersetzung endet, beginnt mit einer so genannten „Vorphase“. In dieser Phase muss der Aggressor die Situation erfassen und analysieren. Dies ist die Phase, in der sich der Ärger „anbahnt“. Ob der Verteidiger in der Lage ist, die „Vorphase“ als solche zu erkennen, hängt von den Umständen und dem Aufmerksamkeitsgrad des Verteidigers ab. Bei einem „Überraschungsangriff“ ist es in den allermeisten Fällen so, dass der Verteidiger die „Vorphase“ z.B. durch eigene Ablenkung oder durch Unaufmerksamkeit nicht mitbekommt, der Aggressor aber diese „Vorphase“ zum Beispiel für die Wahl des richtigen Angriffszeitpunktes nutzt. Um eine Konfliktsituation in der „Vorphase“ zu entschärfen, ist es zunächst erforderlich, dass der Verteidiger die Vorphase überhaupt erkennt und als solche wahrnimmt. Ferner muss ein realistisches Selbstverteidigungstraining Methoden anbieten, wie der Verteidiger mit verbalen Mitteln und dem Einsatz von Körpersprache dem Angreifer deutlich macht, dass man keine Auseinandersetzung will. Eine Lösung des Konflikts in der Vorphase basiert nicht auf physischer Gewaltanwendung.
„Übergangsphase“
In dieser Phase befindet sich die Konfliktsituation „auf der Kippe“ zwischen nichtphysischer und physischer Auseinandersetzung. Auch in dieser Phase ist noch eine Konfliktlösung durch verbale und körpersprachliche Mittel denkbar. Gleichzeitig muss der Verteidiger aber Vorkehrungen für einen physischen Angriff treffen. Hierzu zählt vor allem, eine regelmäßige Atmung (wieder) herzustellen, da nur durch eine regelmäßige Atmung die Bewegungsfähigkeit des Körpers (wieder) sichergestellt wird. Alle Bewegungen, auch solche, die während eines Kampfsport– oder Selbstverteidigungstrainings antrainiert wurden, werden nicht abrufbar sein, wenn die Atmung aussetzt und sich der Körper in einer Art Bewegungsstarre (Stichwort: „Starr vor Angst“) befindet. Gleichzeitig beginnen die Vorbereitungen für eine physische Auseinandersetzung wie z.B. die Wahl einer taktisch günstigen Position (Gegenstände, Möbel, Personen, die zwischen den Aggressor und dem Verteidiger positioniert werden können), die gleichzeitig eine möglichst günstige Ausgangsposition für eine physische Auseinandersetzung schafft, aber dennoch nicht aggressiv oder provokant wirkt. Das Ziel bleibt in der Übergangsphase ebenfalls noch, durch Körpersprache und verbale Einflussnahme die Situation ohne physische Gewaltanwendung zu entschärfen.
„Physische Phase“
Die physische Phase beinhaltet letztendlich die körperliche Auseinandersetzung mit dem Aggressor. Es sollte bedacht werden, dass nach unserem Beispiel bereits zwei Phasen verstrichen sind, in denen der Verteidiger bei richtigem Erkennen und Handeln vielleicht die Möglichkeit gehabt hätte, den Konflikt ohne Gewaltanwendung zu beenden. Die meisten Selbstverteidigungskurse / Schulungen setzten aber mit ihrem Trainingsansatz nur bei der Bewältigung der physischen Phase an, in dem sie „Techniken“ aus den verschiedensten Kampfsportarten / Künsten zur Abwehr von Angriffen als Lösung anbieten. Dies ist aber aus verschiedenen Gründen nicht ausreichend.
Wie bereits erwähnt, ist es von entscheidender Bedeutung, dass in einer extremen Stress – und Angstsituation (um eine solche handelt es sich in jedem Fall, wenn ein „Normalbürger“ Opfer eines aggressiven Angriffs wird) ein temporärer Atemstillstand (Schock) verhindert wird. Dieser Atemstillstand hat eine generelle Bewegungsunfähigkeit zur Folge. Befindet man sich im Zustand des Atemstillstandes während ein physischer Angriff erfolgt, so ist man nicht in der Lage, diesen Angriff physisch abzuwehren, da man sich in einer Art Lähmungszustand befindet. Dies gilt für kampfsporttrainierte wie untrainierte Personen gleichermaßen, da in diesem Zustand jegliche Bewegungsmotorik beeinträchtigt ist. Naturgemäß ist der Level, wann eine Person in diesen Schockzustand gerät, individuell unterschiedlich. Die Ursachen hierfür liegen im Stressverhalten des Menschen [1].
Wann eine Situation als so bedrohlich eingeschätzt wird, dass sie den oben beschriebenen Schockzustand hervorruft, hängt von den individuellen Erfahrungen und dem „Trainingszustand“ des Betroffenen ab. Ohne hier zu tief in die Stressforschung abgleiten zu wollen, ist es jedoch mittlerweile wissenschaftlich erwiesen und erforscht [2], dass Menschen eine Situation dann als besonders bedrohlich ansehen (und sie damit schockfördernd ist), wenn diese Situation für sie unbekannt und unkalkulierbar ist.
Genau eine solche Situation stellt aber ein aggressiver physischer Angriff auf einen „Normalbürger“ dar. Die meisten Bürger wissen nicht, wie es ist, von einem aggressiven Straßenschläger angegriffen oder vielleicht mit einer Waffe bedroht zu werden. Sie können sich die möglichen Folgen (Schmerz, schwere Verletzung, Todesangst) nicht vorstellen oder gar abschätzen. Diese Unwissenheit erzeugt den Schockzustand der oben beschrieben wurde. Befindet man sich in einer solchen Situation, so kann man nur durch gezielte Atemtechniken diesen Schockzustand aufbrechen und die Bewegungsfähigkeit des Körpers zurückgewinnen. Dies ist daher die Basis für eine physische Verteidigung und muss Inhalt von Selbstverteidigungsunterrichten sein.
Erst danach richtet sich das Augenmerk auf die eigentlichen „physischen Verteidigungstechniken“. Auch hier gelten ein paar entscheidende Grundregeln: Durch den Stress, den die Situation beim Verteidiger hervorruft, ist es für diesen unmöglich, komplizierte Bewegungsformen und feinmotorische Bewegungen auszuführen. Hier gilt eine einfache Formel: Je bedrohlicher die Situation empfunden wird umso grobmotorischer wird die mögliche Abwehr ausfallen. Die Wahl der Bewegungsmotorik im Falle eines Angriffs sollte auf das „natürliche“ Bewegungsverhalten des Menschen zurückzugreifen. „Normale“ Geh– und Bewegungsformen führt der Mensch Tag für Tag unzählige Male aus, ohne darüber nachzudenken. Die Bewegungen sind „eingeschliffen“ und unabhängig von einer bewussten Steuerung durch das Gehirn (ähnlich wie z.B. auch der Schalt - und Kuppelvorgang bei einem erfahrenen Autofahrer). Das bedeutet, dass diese Bewegungsformen jeden Tag unzählige Male „trainiert“ werden.
Wird jedoch, wie in den meisten Kampfsportarten üblich, versucht, dem Körper im Falle eines Angriffs eine andere Bewegungsform (z.B. in Form von wechselnden Kampfstellungen) beizubringen, so ignoriert man dabei völlig den bereits bestehenden „Trainingszustand“. Viel sinnvoller ist es, im Selbstverteidigungstraining zu erlernen, die natürlichen Bewegungsformen, die man jeden Tag ausführt, auch gegen physische Angriffe anzuwenden. Der Vorteil liegt auf der Hand. Die Bewegungen müssen nicht extra erlernt werden, sind sofort abrufbar, müssen nicht über das Gehirn bewusst gesteuert werden und unterscheiden sich nicht vom normalen Bewegungsverhalten außerhalb eines physischen Angriffs. Künstlich erlernte Bewegungsformen wird man niemals, auch nicht bei intensivstem Training, auch nur annähernd so präzise und natürlich bewältigen wie die Bewegungen, die man sowieso tagtäglich ausführt.
Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Punkte, die aus Sicht der Stressforschung bei der Bewältigung von physischen Angriffen beachtet werden müssen, damit die Abwehr eines solchen Angriffes erfolgreich sein kann. Natürlich gehören auch effiziente Abwehrtechniken in das Repertoire eines Erfolg versprechenden Selbstverteidigungssystems. Doch wie man aus dem bisher Beschriebenen hoffentlich erkennen kann, bildet das Erlernen physischer Abwehrtechniken lediglich einen Baustein eines erfolgreichen Selbstverteidigungstrainings. Leider handelt es sich bei den meisten Selbstverteidigungskursen lediglich um die Vermittlung genau dieser, zum Teil mehr schlecht als Recht funktionierenden „Techniken“. Auch ein trainierter Kampfsportler oder Kampfkünstler, welcher mit einem massiven, aggressiven Angriff außerhalb des Trainings konfrontiert wird, wird ohne die Berücksichtigung der angeführten Problembereiche scheitern.
[1] Zum Verhalten von Menschen in „Hochstresssituationen“, div. Arbeiten von Dr. Dietrich Ungerer, Uni Bremen
[2] ebenda.